Die Food & Delivery Branche erlebt gerade sehr turbulente Zeiten. Während der Online-Lebensmittelhandel in den letzten Jahren ein rasantes Wachstum verzeichnete, sieht er sich nun mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Insolvenzen und Rückzüge namhafter Unternehmen erschüttern den Markt, während gleichzeitig innovative Konzepte und technologische Fortschritte neue Chancen eröffnen. Ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt: Der digitale Lebensmittelhandel befindet sich im Umbruch.
Die Corona-Pandemie bescherte der Food & Delivery Branche einen regelrechten Boom. Laut dem Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh) wuchs der Umsatz im E-Food-Segment 2020 um beeindruckende 67 Prozent auf 2,3 Milliarden Euro. Doch die Euphorie war nur von kurzer Dauer.
Ein besonders drastisches Beispiel für den Wandel in der Branche ist der türkische Lieferdienst Getir. Noch vor zwei Jahren wurde das Unternehmen mit 7,5 Milliarden US-Dollar bewertet und galt als das wertvollste Startup der Türkei. In beispielloser Geschwindigkeit expandierte Getir ab 2021 nach Großbritannien, Deutschland und in andere europäische Länder. Ende 2022 übernahm das Unternehmen sogar den deutschen Konkurrenten Gorillas, was Getir scheinbar zu einem neuen Food & Delivery Riesen in Europa machte.
Doch der Schein trog. Trotz Investitionen von rund 800 Millionen Dollar konnte Getir kein nachhaltiges Geschäftsmodell entwickeln. Das Unternehmen verbrannte jeden Monat zwischen 50 und 100 Millionen Euro. Bereits Mitte 2023 musste Getir international 2500 Stellen streichen und zog sich in Deutschland aus 17 Städten zurück.
Der endgültige Schlag kam im April 2024: Getir kündigte seinen kompletten Rückzug aus Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und den USA an. Das Unternehmen will sich nun auf seinen Kernmarkt in der Türkei konzentrieren, wo es das größte Potenzial für langfristiges, nachhaltiges Wachstum sieht. Von dem Rückzug sind in Deutschland allein etwa 1300 Arbeitsplätze betroffen.
Auch der norwegische Online-Supermarkt Oda, der als vielversprechendes Startup galt, steht vor riesigen Herausforderungen. Das Unternehmen musste seinen geplanten Markteintritt in Deutschland verschieben und kämpft mit finanziellen Schwierigkeiten. Trotz innovativer Technologien und eines effizienten Logistikkonzepts zeigt der Fall Oda, wie schwierig es ist, sich im hart umkämpften deutschen Markt zu etablieren.
Oda hatte große Pläne für Deutschland: Mit einem Lager in Mittenwalde bei Berlin wollte der Lieferdienst die Region um die Hauptstadt erobern. Doch nur dreieinhalb Monate nach dem offiziellen Start in Berlin gab Oda im Juni 2023 bekannt, den Betrieb in Deutschland wieder einzustellen. Letzter Liefertag war der 30. Juni. Als Grund nannte Oda das "derzeit schwierige Finanzumfeld", in dem es für viele Unternehmen in der Food & Delivery Branche schwierig sei, Mittel für geplante Expansionen aufzubringen. Oda stellte sein Geschäftsmodell daraufhin auf das Angebot eines Logistics-as-a-Service-Diensts um (LaaS).
Der deutsche Online-Lebensmittelmarkt ist nichtsdestotrotz geprägt von einer Vielzahl an Playern, die um Marktanteile kämpfen und ihre Strategien ständig anpassen. Flink, einst als vielversprechendes Startup gefeiert, befindet sich schon seit vergangenem Jahr in einer komplizierten Situation. Nach einer gescheiterten Übernahme durch Getir war es eine Notfinanzierung von 150 Millionen Euro im Sommer 2023 (u.a. durch REWE), die dem Quick Commerce Anbieter das Überleben sicherte. In der jüngsten Kapitalrunde holte das Berliner Startup trotzdem 150 Mio. Dollar.
Währenddessen wagt der finnische Lieferdienst Wolt mit seinem virtuellen Supermarkt Wolt Market in Berlin einen Neustart. Mit einem breiten Sortiment und der Integration lokaler Unternehmen versucht Wolt, sich als "App für alles" und digitale Mall zu positionieren.
Lieferando plant eine Erweiterung seines Angebots über Essenslieferungen hinaus und strebt an, ein One-Stop-Shop für verschiedene Produktkategorien zu werden. Der jüngste Coup der Just Eat Takeaway Tochter: die Kooperation mit REWE.
Als neuer Herausforderer hat sich seit dem Sommer 2021 außerdem Knuspr etabliert, ein Ableger des tschechischen Food & Delivery Players Rohlik, der sich mit einem Fokus auf Nachhaltigkeit und regionale Produkte eine treue Kundenbasis aufgebaut hat. Nach dem Großraum München und dem Rhein-Main-Gebiet beliefert Knuspr seit Anfang 2024 auch Berlin und Umgebung.
Insgesamt steht die Food & Delivery Branche also vor erheblichen Herausforderungen:
Trotz dieser Herausforderungen treiben Innovationen die Branche voran:
Wolt hat in Berlin einen virtuellen Supermarkt eröffnet (s.o.), der das Konzept des Online-Lebensmittelhandels auf eine neue Ebene hebt. Das Lager, strategisch günstig am ehemaligen Checkpoint Charlie gelegen, umfasst ein Sortiment von 5000 Artikeln (bei Mitbewerber Flink sind es 2000). Von Frischwaren über Molkereiprodukte bis hin zu Haushaltsartikeln deckt Wolt Market nahezu alle Bedürfnisse des täglichen Bedarfs ab.
Das ambitionierte Ziel des Unternehmens ist es, sämtliche Bestellungen innerhalb von nur 30 Minuten zu den KundInnen zu liefern. Diese Geschwindigkeit soll Wolt einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil verschaffen. Besonders bemerkenswert ist die Einbindung lokaler Brands in das Konzept. So arbeitet Wolt unter anderem mit beliebten Berliner Marken wie Five Elephant Coffee oder 8greenbottles zusammen, die ihre Produkte über Wolt Market vertreiben.
Nach dem erfolgreichen Start in Berlin hat Wolt das Konzept bereits auf Hamburg ausgeweitet. Auch dort umfasst das Sortiment über 5000 Produkte und integriert lokale Anbieter wie North Coast Coffee Roasters und Kornfetti Liköre. Diese Strategie der Einbindung lokaler Brands könnte sich als erfolgsentscheidend in einem hart umkämpften Markt erweisen.
Picnic, ein niederländisches Unternehmen mit Edeka-Beteiligung, hat mit seinem innovativen Ansatz in Nordrhein-Westfalen und Berlin die Milliardenmarke beim Umsatz geknackt. Das Unternehmen setzt auf ein einzigartiges Konzept geregelter Lieferfenster, das sogenannte Milchmann-Prinzip, um die Zeit und die Route für die gelieferten Lebensmittel zu optimieren. Das Unternehmen punktet in einem kostenbewussten Markt wie Deutschland außerdem mit Preisen auf Discount-Niveau.
Dieses Modell unterscheidet sich deutlich von den Quick-Commerce-Anbietern, die auf möglichst schnelle Lieferungen setzen. KundInnen wissen genau, wann ihre Bestellung eintrifft, was die Planbarkeit erhöht und gleichzeitig die Logistikkosten für das Unternehmen senkt. Der Erfolg von Picnic zeigt, dass es im Online-Lebensmittelhandel nicht ausschließlich um Geschwindigkeit geht, sondern auch um Zuverlässigkeit, Effizienz und das Preis-Leistungs-Verhältnis.
Die Grenzen zwischen stationärem und Onlinehandel verschwimmen zunehmend. Hybride Modelle, die das direkte Kundengespräch mit der Transparenz des Onlinehandels verknüpfen, könnten auch im Lebensmittelhandel Schule machen. Ein Beispiel für diesen Trend ist das innovative Konzept, das Media Markt in Barcelona testet.
In diesem Konzept wird ein kleiner Elektronikmarkt mit wenigen ausgestellten Produkten, vielen Kundenberatern und großformatigen Bildschirmen kombiniert. Auf riesigen Touchscreens können KundInnen die Ware betrachten, vergleichen und zusätzliche Informationen nachlesen. Bei Interesse kann die Ware direkt bestellt oder nach Hause geschickt werden.
Obwohl dieses spezifische Beispiel aus dem Elektronikhandel stammt, lässt sich das Konzept leicht auf den Lebensmittelhandel übertragen. Vorstellbar wären etwa Supermärkte, in denen KundInnen Produkte digital auswählen, während sie gleichzeitig frische Waren wie Obst und Gemüse persönlich begutachten können. Die Bestellung könnte dann wahlweise sofort mitgenommen oder zu einem gewünschten Zeitpunkt nach Hause geliefert werden.
Diese hybriden Modelle könnten die Zukunft des Einzelhandels prägen, indem sie die Vorteile des Online-Shoppings mit dem persönlichen Einkaufserlebnis verbinden. Sie bieten KundInnen die Flexibilität und Informationstransparenz des Onlinehandels, ohne auf die sensorischen Aspekte des stationären Einkaufs verzichten zu müssen.
Die aktuelle Situation im digitalen Lebensmittelhandel ist zweifellos herausfordernd. Hochmut kommt bekanntermaßen vor dem Fall und so mancher Food & Delivery Player ist entschieden zu nah an die Sonne geflogen. Doch wie so oft birgt jede Krise auch Chancen. Unternehmen, die jetzt an den richtigen Stellschrauben drehen, können sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen.
Die Zukunft des digitalen Lebensmittelhandels wird von jenen Unternehmen gestaltet werden, die es schaffen, innovative Technologien mit einem echten Mehrwert für die KundInnen zu verbinden. Ob virtuelle Supermärkte, optimierte Lieferfenster oder hybride Einkaufskonzepte – die Möglichkeiten sind vielfältig. Entscheidend wird sein, diese Innovationen so einzusetzen, dass sie das Einkaufserlebnis verbessern und gleichzeitig langfristig wirtschaftlich tragfähig sind.
Der digitale Lebensmittelhandel steht vor einem Wendepunkt. Die kommenden Jahre werden zeigen, welche Konzepte sich durchsetzen und wie die Branche die aktuellen Herausforderungen meistert. Eines ist jedoch sicher: Der Weg in die Zukunft führt über Innovation, Kundenorientierung und nachhaltige Geschäftsmodelle.